395 Stufen in die Einsamkeit – Projekt Turmeremit im Linzer Mariendom startet wieder los!
Ende 2008 wurde im Turm des Mariendoms, über dem Trubel der Stadt auf rund 68 Meter Höhe, die Türmerstube eingerichtet. Sie war im Zweiten Weltkrieg eingebaut und als Beobachtungsposten genutzt worden, um etwaige Bombentreffer schneller lokalisieren und Hilfe koordinieren zu können. Seit 2009 steht die Eremitage Menschen offen, die sich in die Stille zurückziehen möchten. Die Eremitage ist ein Ort, der die Suche nach Sinn, dem Grund des Lebens, nach Gott wachhält und dazu anregt, die eigenen Lebensentwürfe zu be- und überdenken. Eremit*innen sind ein zentrales Phänomen der Menschheits- und Religionsgeschichte. Seit tausenden von Jahren ziehen sich Menschen zeitlich begrenzt oder für immer zurück, um einen neuen Blick auf das Leben zu bekommen und sich auf das Wesentliche auszurichten.
Sieben Tage Stille und Einsamkeit
Die Erfahrung des Eremit*innendaseins ist in der Fastenzeit und zu Ostern, über die Sommermonate Juli und August sowie in der Adventszeit und zu Weihnachten möglich.
Jeweils sieben Tage – von Freitag bis Freitag – verbringen die Eremitinnen und Eremiten in der rund 9 m2 großen Türmerstube. Während des Aufenthaltes gibt es tägliche Treffen mit einer oder einem spirituellen Begleiter*in, die/der den Eremit*innen zur Seite gestellt wird. Darüber hinaus werden die Eremit*innen gebeten, ein Tagebuch zu führen, welches von Eremit*in zu Eremit*in weitergegeben wird. Erfahrungsberichte, Gedichte, Dankesworte und Gebete, aber auch Bilder und Zeichnungen prägen diese Eintragungen. Einmal am Tag gehen die Teilnehmer*innen hinunter in die Kirche, um sich beim Zugang zum Turm ein warmes Mittagessen, sowie das Abendessen und das Frühstück für den kommenden Tag abzuholen.
Eine Teilnahme als Turmeremit*in ist ab 18 Jahren und unabhängig von Herkunft und religiöser Zugehörigkeit möglich. Eine gewisse Grundkondition wird vorausgesetzt, müssen doch stolze 395 Stufen bis zur Eremitage erklommen werden.
Schweigen mit dem Eremiten
In den Zeiten, in denen die Türmerstube bewohnt ist, gibt es jeden Freitag die Möglichkeit, der Eremitin oder dem Eremiten beim Mittagsgebet im Mariendom zu begegnen. So wird die Dimension des Schweigens für Interessierte auch im Alltag erfahrbar. Eine originalgetreue Rekonstruktion der Eremitage, die im Erdgeschoss des Mariendoms so positioniert ist, dass sie ganzjährig von den Kirchenbesucher*innen betrachtet werden kann, lädt dazu ein, die Räumlichkeit auf sich wirken zu lassen. Damit geht das Projekt geht in einer vielschichtigen und vernetzten Weise über die Eremitage im Turm hinaus.
268. Turmeremitin nach baustellenbedingter Pause
Als erste Eremitin nach drei Jahren ist Birgit Kubik am Freitag, 4. März 2022, in die Türmerstube eingezogen. Die 51-jährige Ennserin und Mutter zweier Söhne ist seit Beginn des Projektes fasziniert davon und hat sich die Eremit*innenwoche zu ihrem 50. Geburtstag von Familie und Freunden gewünscht. „Die Aussicht auf diese Woche war während der vergangenen eineinhalb Jahre ein Anker für mich, ein Lichtblick, mal aus unserem anstrengenden Alltag mit unserem autistischen Sohn Max rauszukommen“, so Kubik. Für sie ist es ein Luxus, einmal ausschließlich Zeit für sich selbst zu haben. „Ich freue mich auf das einfach Dasitzen, auf das an nichts Denken müssen, nichts tun müssen. Auf die Ruhe, die Stille. Darauf, dass endlich einmal meine Gedanken zu „Wort“ kommen können. Ich bin gespannt, was mit mir passieren wird, welche Gefühle, Gedanken, Ideen aufkommen werden. Ich freue mich aufs Lesen und vor allem auf das Hinausschauen in die Weite, auf den Ausblick, den Weitblick. Vielleicht verhilft mir dies zum Durchblick. Ich hoffe, dass auch eine gewisse Leere in meinem Kopf entsteht. Ich möchte den Dom erfassen und seine Energie spüren und dadurch Energie und Zuversicht tanken.“
Projekt anlässlich Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas
Initiiert wurde das Projekt Turmeremit 2008 anlässlich des damals bevorstehenden Kulturhauptstadtjahres. Mag. Hubert Nitsch, Leiter des Kunstreferates und Diözesankonservatorates der Diözese Linz, hat das Projekt ins Leben gerufen. „Von Beginn an wurden dabei mehrere Wesenszüge von Kirche aufgezeigt. Die Kirche hat und verwaltet Räume der Stille, die oft historisch gewachsen sind und eine Alternative bieten, die kaum jemand anderer hat. Diese stellen wir beim Projekt Turmeremit zur Verfügung. Ein Generationenvertrag wird in Form des Tagebuches sichtbar gemacht. Wir sind keine Insel für uns, wir geben etwas weiter an den Nächsten und stehen damit in einer Tradition, die in die Zukunft gerichtet ist. Das Signal, das Kirche damit aussendet, ist wichtig für die Menschen, unabhängig von ihrer Konfession“, erklärt Initiator Nitsch die Hintergründe des Projektes.
Das Angebot des Eremit*innendaseins haben seit 2009 mehr als 260 Frauen und Männer genutzt und das Interesse, sieben Tage in Stille zu verbringen, ist nach wie vor ungebrochen hoch. „Einsamkeit ist ein zentrales Thema in unserer Gesellschaft – und Corona hat das natürlich in den vergangenen beiden Jahren noch verstärkt. Der Umgang mit Einsamkeitssituationen ist sehr herausfordernd und gerade in diesem Punkt hat die Kirche große Erfahrung. Zentral ist dabei die Frage der Seelsorge, ein Grundauftrag der Kirche. Durch die spirituelle Begleitung der Eremitinnen und Eremiten wird das sichtbar gemacht und das Projekt auch ganz klar von anderen Angeboten unterschieden“, so Hubert Nitsch über das große Interesse.
Infos und Anmeldung:
DomCenter Linz, Herrenstraße 36, 4020 Linz, Tel 0732/946100
Rückfragen: Martina Noll, 0676/87768801
Presseunterlagen zum Download
Foto 01: Die Türmerstube in rund 68 Meter Höhe / © Andreas Krenn
Foto 02: Das Eremit*innentagebuch wird von Eremit*in zu Eremit*in weitergegeben / © Andreas Krenn
Foto 03, 04 und 05: Die 268. Turmeremitin, Birgit Kubik, beim Einzug in die Türmerstube / © Diözese Linz/Kienberger